Jedes Mal, wenn Marcus die Kammer aufsuchte, in der Plinus Lacer seine Besucher empfing, fragte er sich, warum der alte Geier ausgerechnet diesen Ort gewählt hatte. Klein, verstaubt und dunkel bot die Kammer kaum genug Platz für den großen Holzschreibtisch, einige Regale und ein paar Stühle. Der noch verbleibende Raum war bis zum Bersten mit Schriftrollen gefüllt. Wie um alles in der Welt konnte er nur in diesem Chaos arbeiten? Darüber dachte man am besten bei einem oder mehreren Getränken nach.
„Ich weiß schon, was du mir sagen wirst.“ Plinus Lacer sprach langsam und hob den Blick von der Schriftrolle, die er gerade las, um den herantretenden Kommandanten anzuschauen.
„Und ich sage es noch einmal. Dieser Region steht ein Krieg bevor und wir haben nur knapp 500 Soldaten hier.“ Das war in den letzten Monaten ihr üblicher Streitpunkt gewesen. „Der Norden von Hibernien ist bereits den Angriffen der Römer zum Opfer gefallen“, fuhr Marcus fort. „Die von uns ausgeschickten Späher sind nie zurückgekehrt. Früher oder später brauchen wir eine Entscheidung, Plinus.“
„Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß. Ist das nicht genau der Grund, warum ich meine Festung hier baue?“ Das Auftauchen eines weiteren Besuchers unterbrach Plinus, was Marcus noch mehr irritierte. Elegant in römische Gewänder gekleidet, gutaussehend und erholt war Appius Lacer das genaue Gegenteil zu Marcus. Letzterer hatte in den vergangenen Nächten gar nicht geschlafen. Der Architekt schob einen Haufen Schriftrollen von einem anderen Stuhl und setzte sich mit seinem üblichen gelangweilten Gesichtsausdruck.
„Also, wo liegt dein Problem, Marcus?“
„Mein Problem?“ Marcus atmete aus und zählte langsam bis zehn, wie es ihm seine Mutter als Kind beigebracht hatte. „Mein Problem besteht darin, dass wir hier keine weitere Festung brauchen. Wir sollten zuerst die vorhandene reparieren! Das hier ist das älteste Dorf der Region und du weißt ganz genau, was das bedeutet! Was schert mich eine neue Festung! Angegriffen wird ja doch unsere!“
„Und wie ich dir schon oft gesagt habe, Schwertkämpfer – sie ist nicht mehr zu reparieren“, sagte Appius. Marcus kochte inzwischen vor Wut. Er würde sich später bei seiner Mutter entschuldigen. „Nun ja, Architekt , dann sag das der Frau, die das verdammte Ding vor nicht ganz drei Tagen repariert hat!“
Appius ließ die Schriftrolle sinken, die er gerade las, und sah den muskulösen Mann an. „Du wagst es, komplexe Verteidigungsbefestigungen mit der Konstruktion einer primitiven Bäuerin zu vergleichen?“ Marcus zählte bis zehn. Dann bis zwanzig. Dann bis dreißig. Aber es half nichts. „Ich wage es, dich mit einer einfachen Frau zu vergleichen, die die Mühle repariert hat. Ehrlich gesagt fällt dieser Vergleich nicht zu deinen Gunsten …“
„Es reicht!“, bellte die kühle Stimme des alten Geiers und unterbrach den Streit. Er wandte sich an Marcus und der Kommandant sah, wie es in den alten wasserblauen Augen freudig aufblitzte. „Du sprichst in letzter Zeit viel zu oft von dem Mädchen, mein Junge. Das macht mich neugierig. Wenn mein Großneffe uns nichts anzubieten hat, müssen wir wohl zu unseren allerletzten Mitteln greifen, oder? Bring sie her, Marcus. Lass uns herausfinden, ob sie wirklich so gut ist, wie du behauptest.“
Der laute Knall, mit dem die Tür ins Schloss fiel, besiegelte diese Entscheidung, aber Marcus störte sich nicht daran. Zum ersten Mal seit Monaten und nach vielen Diskussionen mit Plinus würde er heute endlich wieder einmal schlafen können.