Sie kam eines Morgens ins Dorf, als Marcus wie üblich die Posten überprüfte. Klein, ungelenk, in Lumpen gekleidet und mit einer Tasche voller Schriftrollen über der linken Schulter. Nur eine weitere Bettlerin unter den vielen, die Marcus jeden Tag durch das Dorf kommen sah. Die vergangenen Kriege mit Rom hatten verheerende Auswirkungen für diese Region gehabt. Noch immer zogen viele Menschen umher, suchten nach einem Ort, an dem sie wohnen konnten, und plünderten, was immer sie fanden, um es gegen etwas Essbares einzutauschen. Glücklicherweise hatte ihr Dorf den Krieg mit nur geringen Verlusten überstanden.
Ein Zufallstreffer von einem Katapult hatte die Windmühle getroffen und die Stürme aus dem Norden hatten die Mauer zerstört, aber das war auch schon alles. Letzteres machte Marcus – als Kommandanten der Garnison – ziemlich nervös. Er schob den Gedanken beiseite und bemerkte auf einmal etwas Merkwürdiges an dieser Frau mit den Schriftrollen am Tor, was ihn dazu veranlasste, genauer hinzusehen. Zuerst einmal saß da ein alter, schläfriger Falke auf ihrer Schulter, der weder eine Leine noch eine Haube trug. Und dann war da ihr entschlossener Blick, als sie auf ihn zukam.
„Hast du hier das Sagen?“, fragte die Frau. So jung, wie er zunächst aus der Ferne gedacht hatte, war sie gar nicht, stellte Marcus fest. Sie war vermutlich Ende 20, hatte braunes Haar, eine lange Nase und dünne Lippen, die ihr Gesicht etwas unproportioniert wirken ließen. Sie war nicht die Hübscheste, aber das war Marcus auch nicht gerade. Dennoch hatte sie irgendetwas an sich, was sich in sein Gedächtnis einprägte, auch wenn er nicht genau wusste, was es war.
„Der Herrscher lebt im Rathaus“, sagte Marcus und sah sie mit leichtem Interesse an. „Ich glaube allerdings nicht, dass er Zeit hat, um mit jedem zu sprechen, der durch unsere Siedlung kommt. Du brauchst schon einen guten Grund, um eine Audienz zu bekommen.“
„Ich brauche keine Audienz“, antwortete die Frau. Als sie den Riemen ihrer Tasche höher auf ihre Schulter schob, sah Marcus kurz die vielen blauen Flecken darunter. Diese Tasche war offensichtlich viel zu schwer für sie und sie hatte sie vermutlich sehr lange getragen. „Mir ist aufgefallen, dass an eurer Windmühle ein Flügel fehlt … Das heißt vermutlich, dass ihr auch keinen Müller habt. Kann ich hier leben, wenn ich ihn repariere?“
Diese Frage kam so unerwartet, dass der Soldat aus reiner Überraschung laut auflachte. Die Frau wartete geduldig, bis er sich wieder beruhigt hatte. Er vermutete, dass sie es gewohnt war, abgewiesen zu werden.
„Gute Frau“, sagte Marcus, der immer noch über dieses unmögliche Anliegen schmunzelte. „Dieser Windmühlenflügel ist dreimal so groß wie du und mindestens viermal so schwer. Mein Freund, der Architekt, hat ihn sich schon angesehen und gesagt, dass er nicht mehr zu reparieren ist.“ Er dachte einen Augenblick nach. „Weißt du, ich kann die Entscheidung nicht treffen, aber du hast meine Neugier geweckt. Wenn du ihn reparieren kannst, bitteschön. Ich werde beim Herrscher ein gutes Wort für dich einlegen.“ Er kicherte in sich hinein, hielt aber abrupt inne, als er die Frau weinen sah. „Es tut mir leid. Die letzten Wochen waren hart hier. Kann ich dir mit etwas anderem behilflich sein?“
„Ich heiße Kora. Und du hast mich nicht verletzt“, antwortete sie. Sie lächelte und Marcus erkannte, dass es Tränen der Erleichterung waren. Kora lächelte. „Kannst du mir den Namen dieses Dorfes sagen, …“
„Marcus“, antwortete er. „Ich heiße Marcus und wir nennen es das Nest des alten Geiers.“
„Das Nest?“ Kora lachte und wandte sich an ihren Falken, der das gesamte Gespräch aufmerksam verfolgt hatte. „Hast du das gehört, Nenet?“, sagte sie, als sie an Marcus vorbeiging. „Wir werden im Nest leben, ist das nicht witzig?“ Nenet stieß einen schrillen Schrei aus, der Marcus überrascht zurückspringen ließ. Was für ein komischer Vogel! Und seine Besitzerin erst!
Seit diesem seltsamen Zusammentreffen waren drei Tage vergangen. Wie üblich überprüfte Marcus die Posten. Immer noch kamen Menschen ins Nest des alten Geiers. Man hörte die Rufe der Marktverkäufer und der Wiederaufbau kam in Schwung. Ein ganz normaler Tag war heute aber nicht.
Die Windmühle drehte sich wieder.